Das dunkle Geheimnis von Gamvik
06 Jul 2018

Das dunkle Geheimnis von Gamvik

06 Jul 2018

Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir unseren liebgewonnenen Highway, die Route E6, bei Lakselv verlassen haben. Der Diesel brummt friedlich und ganz allein geht es durch eine fast schon surreale Mondlandschaft, die in ihrer kargen Beschaffenheit aber eine ganz besondere Schönheit darstellt. Längst schon habe ich mir abgewöhnt den Bus für Fotopausen neben der Straße abzustellen und bleibe mitten auf der Fahrbahn stehen. Die letzten Stunden war auf der gut ausgebauten Strecke kein anderes Auto anzutreffen.

Das Dorf besteht nur aus wenigen Häusern und einem Gemischtwarenladen, der zugleich auch der zentrale Treffpunkt der Dorfbewohner zu sein scheint. Wir durchqueren die kleinen Gassen um auch die letzten Meter der Straße zu erkunden und fahren weiter zum nördlichsten Festlandsleuchtturm der Welt, dem Slettnes Fyr. Während immer mehr Wohnmobile ihren Weg in diese Region finden, beschließe ich den Kutter nicht zu den drei anderen „weißen Riesen“ auf den offiziellen Parkplatz zu stellen, sondern lenke ihn kurz hinter dem Leuchtturm noch einige hundert Meter querfeldein Richtung Meer. Leider ist es bewölkt und das eigentliche Projekt, die Mitternachtssonne über den Horizont wandern zu sehen scheint für diesen Abend definitiv aussichtslos.

Während eine Rentierherde ohne jede Scheu grasend den Kutter einkreist mache ich mich auf den Weg zum Leuchtturm. Im kleinen Häuschen des Leuchtturmwärters brennt Licht und eine Tafel informiert mich verheißungsvoll über frische Waffeln, die man wohl käuflich erwerben kann. Hungrig trete ich ein.

Es ist ein Bild wie aus längst vergangenen Zeiten, der Holzboden knirscht, auf den 3 Tischen in der Gaststube stehen Kerzen, es wirkt als wäre in diesem Gebäude die Zeit um die Jahrhundertwende stehen geblieben. Gemütlich ist es, urig. Ich staune nicht schlecht, als der Leuchtturmwärter meine etwas hilflose Waffelbestellung sofort in bestem Deutsch quitiert. Als die Waffeln fertig sind setzt er sich mit zu mir an den Tisch. Während ich die kulinarische Köstlichkeit nordnorwegischer Küche genieße, entsteht ein sehr interessantes Gespräch und ich erfahre folgende Geschichte:

Es ist lange her, über 30 Jahre, als „Tante Grete“ ein unheimliches Geräusch hört, einen Knall. Sie ist spazieren, vielleicht genau dort, wo jetzt gerade mein Kutter als Teil der Rentierherde auf mich wartet. Tante Grete ist Kindergärtnerin gewesen, oder Lehrerin – oder vielleicht beides wenn man an die Größe des Dorfes denkt. Tante Grete wird erschrockene Zeugin, wie ein Flugzeug ins Meer stürzt. Doch sie hört aber noch ein weiteres Geräusch! Obwohl das abgestürzte Flugzeug in Trümmern vom Nordmeer verschluckt wurde sieht sie ein oder zwei Kampfflugzeuge am Himmel, direkt an der Unglücksstelle, im Tiefflug fliegen sie über Gamvik hinweg. Für Tante Grete scheint es eindeutig, die Kampfflugzeuge haben das Passagierflugzeug zum Absturz gebracht. Schnell holt sie Hilfe und berichtet von Ihrer Beobachtung. Für die Insassen des abgestürzten Flugzeugs kommt jede Hilfe zu spät, es gibt keine Überlebenden. Untersuchungen zur Absturzursache laufen an, Tante Grete berichtet abermals was sie gesehen hat. Niemand glaubt ihr. Der Luftraum in dieser Region ist für die militärische Nutzung gesperrt, es ist also gar nicht möglich, dass Kampfflugzeuge beteiligt gewesen sein könnten. Die Unfallakte wurde nach einiger Zeit ohne plausible Klärung geschlossen. Tante Grete wurde für verrückt erklärt, der gesehene Absturz hat sie emotional zu sehr gefordert, ihr wird jede Glaubwürdigkeit aberkannt. 30 Jahre lebt Grete mit dem Wissen des Gesehenen, mit der Ungewissheit was wirklich passiert ist und damit, dass ihr niemand glaubt.

Eines Tages klingelt Gretes Telefon und ein alter Mann ist am Apparat. Er stellt sich als Befehlshaber der Luftwaffe ausser Dienst vor und entschuldigt sich. Sein Anliegen ist es, etwas klarzustellen, das lange in der Vergangenheit passiert ist und das er nicht mit in sein Grab nehmen möchte. Der Mann räumt ein, dass Grete mit ihrer Beobachtung die ganze Zeit Recht hatte. Es gab Übungen der Luftwaffe, die trotz Flugverbotszone auch in dieser Region stattgefunden hatten. Im Zuge dieser Übungen, an denen nicht nur norwegische Streitkräfte beteiligt waren, sondern vor allem auch andere Nato-Nationen, hat ein vermutlicher Scheinangriff auf das Passagierflugzeug den Piloten möglicherweise derart erschreckt, dass es zum Unglück kam. Normal wäre eine derartige Übung per Funk mit dem Piloten des anderen Flugzeugs zuvor ja abgesprochen worden, in diesem Fall gab es dabei wohl ein Missverständnis, welches 15 Menschen das Leben kostete. Die politische Lage war durch den kalten Krieg sehr schwierig und die Sowjetunion nahe. Es ist wohl auch zu bewussten Provokationen gekommen in dieser Zeit, durch die mutwillige Missachtung der Flugverbotszone, daher konnte man zu Gretes Beobachtung keine andere Stellung beziehen. Grete hatte nun also für sich Gewissheit.

„Weißt du“, meinte der Leuchtturmwärter, „Wenn du ins Dorf gehst, dann schau dich einmal bewusst um. Schnell wird dir auch ein Haus auffallen, wo viele dicke Kabel hineingehen, mit einem großen Stromaggregat vor der Tür. Niemand im Dorf weiß so recht welchen Zweck dieses Gebäude hat, oder man will es nicht wissen, wer weiß. Von Zeit zu Zeit gehen Männer hinein und kommen erst Tage später wieder heraus. Tja, wir sind hier eben am Ende Europas, eine strategisch wichtige Passage im Meer, vielleicht auch viele U-Boote, du verstehst?“

Wohl gestärkt verlasse ich später den Leuchtturm, es ist mitten in der Nacht und trotz Bewölkung taghell. Nicht nur wegen des besonderen Lichtes der Mitternachtssonne sehe ich dieses Dorf nun mit ganz anderen Augen – der für mich bis dahin friedlichste Ort der Welt liegt ruhig da und hat doch viel zu erzählen.

MidnightSunGamvik

Ich kann trotzdem nur jedem empfehlen, an dieser Krezung kurz vor Lakselv den Blinker links zu setzen und dieses Abenteuer zu wagen. Diese Straße geht wirklich ans Ende der Welt, ohne den lauten Tourismus des Nordkapps, ohne große touristische Infrastruktur aber mit so viel Charme und Schönheit. Geht in den Leuchtturm und fragt nach Tante Grete!

GamvikStrand

… Ach ja, und wem das alles immer noch nicht genug Abenteuer ist, also ich war danach baden im Nordpolarmeer. Der Strand ist wunderschön mit weißem Sand und bei 7°C Wassertemperatur ist euch nicht nur der entsetzte Blick der benachbarten Seerobbenkolonie gewiss, sondern sicher auch ihr Respekt.

Hit the road und Kutter ahoi!

Gamvik

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